Atomwaffenabwürfe

Flucht vor den Flammen für die meisten vergeblich: Nach dem Atombombenabwurf am 6. August 1945 in Hiroshima

Die Atombombe als Fluch oder Segen

Am Morgen des 6. August 1945 detonierte die von dem US-Militärflugzeug Enola Gay abgeworfene Atombombe 580 Meter über dem Shima-Krankenhaus im Zentrum von Hiroshima. Der Feuerball erhitzte die Luft auf 300 000 Grad Celsius. Auf dem Boden brach eine ungeheure Druckwelle Tausende von Holzhäusern aus ihren Fundamenten und wirbelte die Trümmer mit elementarer Wucht durch die Luft. Unzählige Menschen verbrannten in einer alles verschlingenden Feuerwalze, viele andere erlitten durch den radioaktiven Fallout schwerste Verletzungen. Im ersten nuklearen Inferno der Geschichte starben 100 000 Menschen sofort und in den Monaten und Jahren danach bis zu 250 000 weitere qualvoll an ihren Verstrahlungen. Seither ist Hiroshima weltweit zu einem Symbol für die Bedrohung der Menschheit durch sich selbst geworden, nicht aber in den USA.

Die Opfer waren beabsichtigt
Niemals zuvor hatte eine einzige Kriegsaktion eine derart hohe Zahl ziviler Opfer gefordert. Das menschliche Leid war beabsichtigt. Vorschläge, die Bombe auf militärische Anlagen oder unbewohntes Gebiet abzuwerfen, um die japanische Regierung dadurch zur Kapitulation zu zwingen, hatte der erst seit wenigen Wochen amtierende US-Präsident Harry Truman in den Wind geschlagen.
Wie die meisten neueren Forschungen zeigen, ging es Truman bei seinem Einsatzbefehl insbesondere darum, Stalins Sowjetunion die militärische Stärke und nukleare Entschlossenheit der USA zu demonstrieren. Daneben sollte dem japanischen Kriegsregime, das 1941 den Flottenstützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii angegriffen hatte, eine unvergessliche Lektion erteilt und gegenüber der Öffentlichkeit die extrem hohen Kosten des «Manhattan Projekts», des Projekts zur Entwicklung der Atombombe, gerechtfertigt werden.
Florian Coulmas, der das Deutsche Institut für Japanstudien in Tokio leitet, beschäftigt sich in seinem brillanten Buch weniger mit dem ersten Atombombenabwurf selber. Im Zentrum steht die Frage, wie die Grosskatastrophe in Japan und den USA verarbeitet worden ist. Für seine kulturgeschichtliche Studie wertet der renommierte Japanologe ein breites Spektrum von Quellen aus: Augenzeugenberichte und Romane ebenso wie Schulbücher, Denkmäler und Aussagen von Spitzenpolitikern und Generälen.
Die Überlebenden wussten in den ersten Tagen nicht, was ihnen geschehen war. Viele glaubten an einen Giftgasangriff und sprachen von «schwarzem Regen», der eine mysteriöse Strahlenkrankheit auslöse. Nach einer Zeit des vollkommenen Unverständnisses folgte eine Phase des verordneten Schweigens, die von der Zensur der amerikanischen Besatzungsmacht erzwungen wurde. So konnten fotografisches Material aus Hiroshima bis zum Ende der Besatzungszeit 1952 nicht gezeigt und keine kritischen Berichte publiziert werden.

Pazifistische Gedenkkultur ...
Erst danach bildete sich in Japan eine pazifistische Gedenkkultur heraus, zu der Takashi Nagai mit seinem Augenzeugenbericht «Die Glocken von Nagasaki» (1949) und die Schriftsteller Masuji Ibuse und Kenzaburo Oe mit ihren literarischen Erkundungen wesentlich beitrugen. Die japanischen Schulbücher stellen Hiroshima als Teil der Niederlage und vor allem als humanitäre Katastrophe dar. Wie die meisten japanischen Stellungnahmen kommen sie ohne Schuldzuweisungen aus. In Japan wird das traumatische Geschehen aus der Opferperspektive erzählt, in der die menschliche Dimension im Mittelpunkt steht. Die Lehre von Hiroshima ist die Absage an den Krieg als solchen.
In ganz anderer Weise wird in den USA an Hiroshima erinnert. Freilich musste für einen Massenmord dieser Dimension eine möglichst plausible Rechtfertigung konstruiert werden. Präsident Harry Truman, ein Demokrat, legitimierte seine Entscheidung öffentlich stets damit, dass der Abwurf der beiden Atombomben das Leben von einer halben Million amerikanischer Soldaten gerettet habe. Durch die Atombombenabwürfe sei eine verlustreiche Invasion der japanischen Hauptinsel vermieden und Japan zu einer raschen Kapitulation gezwungen worden.
Zwar bestritten General Dwight D. Eisenhower und Admiral William Leahy die militärische Notwendigkeit der Atomschläge schon früh. Doch setzte sich Trumans Deutung fast kanonisch in der amerikanischen Erinnerungskultur fest. Jedenfalls werden die Atombombenabwürfe in den amerikanischen Schulbüchern als Teil des «Triumphs der amerikanischen Nation» dargestellt. Das durch sie verursachte Leid bleibt dabei ganz ausgespart. In den USA sieht man die nukleare Zerstörung von Hiroshima als militärisch notwendige und alternativlose, ja als legitime Aktion in einem «gerechten Krieg».

... oder nationaler Triumph
Daran hat sich bis heute nichts grundlegend geändert. 1995 plante das Luft- und Raumfahrtmuseum in Washington eine Ausstellung zum 50. Jahrestag des Kriegsendes. Erstmals sollte die Sicht der japanischen Opfer einbezogen werden. Deshalb baten die Ausstellungsmacher das Friedensgedächtnismuseum in Hiroshima und das Atombombenmuseum in Nagasaki um Zusammenarbeit. Beide japanischen Museen erklärten sich bereit, Exponate aus ihren Sammlungen zur Verfügung zu stellen: einen geschmolzenen Rosenkranz, ein Kinderkleid, ein Marienbild und eine Radiosonde, die abgeworfen worden war, um die Wirkung der Bombe zu messen. Als das Ausstellungskonzept öffentlich bekannt wurde, nahmen es die einflussreichen Veteranenverbände und konservative Politiker sofort unter Dauerbeschuss. Selbst der Verzicht auf die umstrittenen Exponate genügte den Kritikern nicht. Schliesslich gelang es der patriotischen Lobby, die Ausstellung zu verhindern.
Nicht betroffen vom Entrüstungssturm war die Enola Gay. Seit 1995 kann sie als Meilenstein amerikanischer Luftfahrttechnik in Washington bestaunt werden. Wer sich der Ideologie vom «gerechten Krieg» derart verpflichtet weiss wie beinahe alle amerikanischen Administrationen seit 1945, der hat keine besonderen Schwierigkeiten, dem «Guten» in der Welt auch mit militärischer Gewalt zum Durchbruch zu verhelfen. Tatsächlich war seit 1945 keine andere Macht in so vielen Konflikten engagiert wie die USA - mit teilweise verheerenden Folgen bis in die jüngste Gegenwart.

Quellenangabe

Tages Anzeiger, 19. April 2005