Es dringt kaum Lärm ins Zimmer von Elsa Rutgers. Fast unwirklich breitet sich ihre Geschichte in der Ruhe des Stadtzürcher Altersheims aus. «Da oben ist alles noch da», sagt sie und tippt sich an die Stirn, «dass ich das alles überlebt habe und dabei nicht mal verrückt geworden bin, ist ein kleines Wunder.» Fotos, Briefe und Tagebücher aus neun Jahrzehnten erzählen von einem intensiven, stolzen, aber auch entbehrungsreichen Leben, geprägt von den politischen Ereignissen des letzten Jahrhunderts. Elsa Fausch, so ihr Mädchenname, wird 1912 in Zürich geboren. «Erst wohnten wir an der Schaffhauserstrasse, ich war das einzige Kind, hatte aber guten Zugang zu den Nachbarskindern. » Elsas Vater, als Beamter bei der Post angestellt, gehört zu den Gründern der Kommunistischen Partei in Zürich und ist KP-Kantons- und Gemeinderat. Die Mutter, die gegen das politische Engagement ihres Mannes ist, leidet zeit ihres Lebens an einer Krankheit. Elsa wird zum Vater stets eine viel stärkere Bindung haben, durch ihn wird sie politisiert. «Jeden Sonntagvormittag ging Papa agitieren, wie wir das nannten. Ich bin ganz selbstverständlich in den Kommunismus hineingewachsen; was mein Papa sagte und tat, war für mich damals alles richtig.»
Auf in die Zukunft In den zwanziger Jahren erstarkten die kommunistischen Parteien europaweit. Angesichts des maroden und zerstrittenen Nachkriegseuropa erscheint der Kommunismus als Ausweg aus einer von Klassengegensätzen und Nationalismus geprägten Zeit. Die russische Revolution von 1917 gilt vielen als Anfang des Siegeszugs des Kommunismus, die Sowjetunion wird zum «gelobten Land». In Westeuropa werden «die Roten» von Bürgertum und Staat als Bedrohung wahrgenommen und mit repressiven Massnahmen bekämpft. Als Elsa in der Sekundarschule ist, wird den Fauschs die Wohnung gekündigt, später verliert der Vater auch noch die Stelle. «Nach 27 Jahren bei der Post haben sie ihm vom einen Tag auf den anderen gekündigt und ihm sozusagen als Strafe auch die einbezahlte Rente gestrichen. Das war sehr schlimm für uns, Papa fand lange keine Arbeit mehr.» Anlass zur Kündigung gab die Teilnahme des Vaters an einer unbewilligten Demonstration, vermutlich wollte der Staatsbetrieb den «suspekten» Kommunisten aber schon lange loswerden. Elsas Stolz wird durch diesen Schock gestärkt. Sie ist bereit zum Widerstand gegen das Bürgertum: «Die Idee einer gerechten Gesellschaft hat einen gepackt, man war gerne bereit, dafür Opfer zu bringen.» Mit sechzehn wird Elsa Mitglied beim KJV (Kommunistischer Jugendverband) Zürich, verkehrt und diskutiert in Kommunistenkreisen, besucht Veranstaltungen, liest statt der bürgerlichen Blätter den «Kämpfer»: «Ich verachtete die Bürgerstöchter in meiner Klasse am Gymnasium. Das waren für mich Klassenfeindinnen, Abkömmlinge der Bourgeoisie, sie haben mich nicht interessiert, und ich habe sie nicht interessiert.» In einer kommunistischen Studentengruppe lernt sie den ETH-Ingenieur Wim Rutgers, Sohn eines bekannten holländischen Kommunisten, kennen und verliebt sich in ihn. Elsa und Wim heiraten nach ihrer Matura 1932, noch im selben Jahr kommt Söhnchen Jan zur Welt. Elsa Rutgers Leben nimmt eine entscheidende Wendung: «Es war klar, dass Wim in die Sowjetunion gehen wollte. Ich war begeistert vom Gedanken, beim Aufbau des Kommunismus zu helfen, obwohl mir gesagt wurde, dass ich viele Entbehrungen in Kauf würde nehmen müssen. Mir war bewusst, dass mich kein Paradies erwartete. »
Zäher Klassenkampf Im Herbst 1932 ziehen die beiden nach Moskau, wo Wim eine Stelle als Brückeningenieur erhält. Die erste Zeit ist hart, das unübersehbare Elend vieler Menschen in Moskau passt nicht zum Bild einer gerechten Gesellschaft. Als sie zum ersten Mal eine Gruppe von Bettlern sieht, bricht die zwanzigjährige Elsa Rutgers in Tränen aus. Die immensen sozialen Gegensätze in der sowjetischen Hauptstadt entgehen ihr ebenso wenig wie die materielle Besserstellung der Ausländer/innen. Ihren Eltern in Zürich schreibt sie: «Ihr könnt Euch keinen Begriff von den Schwierigkeiten machen. Das Herz möchte erzählen, aber der Verstand befiehlt zu schweigen. Es ist nicht leicht, Kommunist zu sein, auch in der Sowjetunion nicht. (...) Vom Ausland lassen sich leicht schöne Theorien aufbauen, aber im fremden Lande kann man sie nicht so gut durchführen. (...) Der Klassenkampf ist auch hier noch zähe.»
|
Trotz allen Schwierigkeiten bleibt ihr Glaube an das System die ersten Jahre erhalten: «Es war einem ja vorausgesagt worden, dass der Aufbau des Kommunismus Zeit brauche.» Stolz meldet Elsa 1934 ihren Eltern die Aufnahme in den Komsomol, den Jugendverband der sowjetischen KP. Sie lernt Russisch und findet eine Stelle als Deutschlehrerin, 1935 kommt Sohn Petja zur Welt; Jan, das erste Kind, war gestorben. Die dreissiger Jahre in der Sowjetunion sind von einer rasanten und gerade für Neuankömmlinge beeindruckenden Industrialisierung, aber auch von der grossen «Parteisäuberung» (Tschistka) unter Diktator Josef Stalin geprägt. «Plötzlich sind Freunde verschwunden, von denen man wusste, dass sie überzeugte Kommunisten waren. Man getraute sich gar nicht zu fragen, was mit ihnen passiert war, sonst hätte man sich gleich verdächtig gemacht. » Gegen Ende der dreissiger Jahre kommen Elsa starke Zweifel am Staat, dessen Bürgerin sie nun geworden ist. Wim Rutgers, inzwischen von Elsa geschieden, wird denunziert und verliert seine Stelle. Auch der Zürcher Fritz Platten, seinerzeit mit Lenin befreundet und Organisator der Internationalen im bernischen Zimmerwald, fällt der «Säuberung» zum Opfer. Platten, «ein fesselnder Redner, der die Leute begeistern konnte», ist Mitinitiant so genannter Schweizer Abende, wo Elsa Rutgers ihn kennen lernt. Er wird verhaftet und später im Lager hingerichtet. Mit dem Krieg bricht der Schrecken endgültig ins Leben von Elsa Rutgers ein. 1941 wird sie zusammen mit tausenden anderer Ausländer/innen als «Spionin» eingekerkert. Eineinhalb Jahre verbringt sie frierend und hungernd im Gefängnis: «Das Schlimmste waren die Wanzen, die mein Blut liebten. In einer Nacht zählte ich 120 Wanzen an meinem Körper.» Als ein «sozial-gefährliches Element» wird sie 1942 zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt: «Welch ein Glück ich hatte, nur fünf Jahre, alle, die ich kannte, bekamen zehn Jahre Lager. » Im Gulag in Kasachstan hat sie, gemessen an den Umständen, wiederum Glück und kann im Labor statt draussen auf dem Feld arbeiten. Qualvoll sind die Jahre des Eingesperrtseins dennoch, zumal sie nicht einmal weiss, ob ihr Kind und ihr früherer Ehemann noch leben. Erst im Oktober 1945 erhält sie ein Lebenszeichen ihres Sohnes: «Wie zitterte ich, als ich den Brief las», notiert die 33-jährige Mutter. Später erfährt sie, dass Wim 1942 spurlos verschwunden ist. Nach ihrer Freilassung 1946 will Elsa Rutgers nur noch eins: zurück nach Zürich. Doch es sollte elf Jahre dauern, bis sie die Ausreiseerlaubnis erhält. Sohn Petja, der in der Sowjetunion bleibt, erzählt im Jahr 2000 im Fernsehen die Episode, wie er als kleiner Junge bei einer Schulgymnastikaufführung auf einer Pyramide zu stehen und den «Genossen Stalin» als Freund der Jugend zu lobpreisen hatte. Worauf seine Mutter öffentlich in Tränen ausgebrochen sei.Elsa Rutgers nach der
Schön wie ein Märchen Die erste Zeit nach der Rückkehr in die Schweiz 1957 verbringt Elsa Rutgers im Spital, seit der Gefangenschaft ist sie gesundheitlich angeschlagen. Ein politisches Engagement ist für sie nicht mehr denkbar. «Nachdem man immer in Opposition zur bestehenden Gesellschaftsordnung gewesen war, ging alles verloren, woran man so fest geglaubt hatte.» Eine Rückkehr zu den Kommunistinnen in der Schweiz, die ihre Geschichte nicht wirklich hören wollen, steht ebenso wenig zur Diskussion wie ein Anschluss an die stets als «Renegaten» verachteten Sozialdemokratinnen, lieber widmet sie sich der Musik. «Von der Theorie her ist beim Kommunismus alles richtig, aber was daraus gemacht wurde, ist eine totale Enttäuschung. Der Kommunismus hat gar nie richtig geblüht. Er ist eine Utopie, schön wie ein Märchen, ein Ideal, leider aber leben die Menschen nicht nach Ideen.» Ohne Bitterkeit resümiert Elsa Rutgers: «Man könnte sagen, es sei ein Fehler gewesen, Kommunistin zu sein, aber ich war ehrlich überzeugt, ganz ehrlich. Ich bin meinen Weg gegangen, insgesamt hatte ich immer Glück im Unglück, vielleicht musste alles so kommen. Ich hatte ein reiches und erfülltes Leben.» Geblieben ist ihr die Frage nach der Gerechtigkeit: «Wie kann es kommen, dass einer Millionen hat und ein anderer gar nichts?», fragt die 91-jährige Elsa Rutgers in ihrem Zimmer in einem Stadtzürcher Altersheim im Spätsommer 2003.
|