Bösewicht oder uniform-verliebter Prahlhans? Auch 150 Jahre nach seiner Geburt am 27. Januar 1859 wird über die Schuld Kaiser Wilhelms II. am Ausbruch des Ersten Weltkriegs – in England und Frankreich der «Grosse Krieg» genannt – debattiert.Noch nie hatte die Welt zuvor ein solches Gemetzel, so viel Tote, Leid und Elend gesehen. Was vor 95 Jahren begann, im August 1914, ebnete den Weg für den Aufstieg Adolf Hitlers und endete eigentlich erst nach dem Untergang des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg. Der erste globale Krieg wird deshalb als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet.
Globales Gemetzel Abertausende von Soldaten hatten in diesem globalen Gemetzel zwischen 1914 und 1918 ihr Leben auf den Schlachtfeldern lassen müssen. Für den imperialen Wahn der damaligen europäischen Grossmächte Deutschland, Frankreich und England mussten auch Soldaten aus Asien, Afrika und Übersee sterben. Zehn Millionen Soldaten verbluteten auf den Schlachtfeldern von Belgien bis ins chinesische Tsingtau. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war die Schuldfrage juristisch schnell geklärt. Deutschland musste im Versailler Vertrag Reparationsleistungen bezahlen. Doch Historiker beschäftigt die Schuldfrage bis heute. War Kaiser Wilhelm II. wirklich die Triebfeder? Stephan Burgdorff und Klaus Wiegrefe haben in ihrem Buch «Der 1. Weltkrieg»* Beiträge der bedeutendsten Historiker zusammengetragen. Unter anderem auch vom britischen Wilhelm-II.-Biograph John Röhl, der sagt, dass des Kaisers Schuld sehr gross sei.
Optimistische Anfänge 1859 in Berlin geboren, kam Wilhelm bereits mit 29 Jahren auf den deutschen Thron, weil sein Vater Friedrich III. nach 99 Tagen im Amt an Kehlkopfkrebs gestorben war. Er übernahm 1888 ein prosperierendes Reich, das in der Industrieproduktion das englische Empire überholte und in der Naturwissenschaft an der Weltspitze stand. Dementsprechend waren die Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts voller Optimismus. Vor hundert Jahren glaubten sie an eine goldene Zukunft mit mehr Freiheit, Fortschritt und Wohlstand. Der Erste Weltkrieg zerstörte dieses Vertrauen nachhaltig. Millionen von Menschen erlebten und erlitten Gewalt von bis dahin unvorstellbarer Brutalität, was zum Nährboden für Faschisten und Kommunisten mit ihren Wahnvorstellungen vom Rassen- und Klassenkampf wurde.
Der zündende Funke Zündender Funke für den Ersten Weltkrieg wurde das Attentat eines bosnischen Serben auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo am 28. Juni 1914. Danach bat Österreichs Kaiser Franz Joseph den deutschen Kaiser um Unterstützung bei möglichen Schwierigkeiten mit Russland nach der geplanten Strafaktion gegen Serbien. Wilhelm II. sagte zu, «in gewohnter Bündnistreue» an der Seite Wiens zu stehen. Von da an nahm das Unheil auf den Schlachtfeldern seinen Lauf. Begonnen hatte es aber früher. Wilhelms Politik hatte schon seit zwei Jahrzehnten zu einem grossen Misstrauen gegenüber dem nach Weltmacht strebenden Deutschen Reich geführt. Oft wurde der deutsche Kaiser zwar noch als redseliger, selbstgefälliger und prachtliebender Staatsschauspieler belächelt.
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«Jetzt oder nie» Doch seine Reden wurden immer schneidiger und die Berater des Kaisers sprachen gemäss John Röhl schon 1911 davon, dass bald der optimale Zeitpunkt für einen Krieg kommen würde. Eine Woche nach dem Attentat notierte der Kaiser am Rand eines Dokuments: «Jetzt oder nie. Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald.» Das war nach Röhl ein Plädoyer für einen Krieg Österreich-Ungarns gegen Serbien. Die Balkankrise war demnach für Deutschland eine günstige Gelegenheit, gegen Russland und Frankreich vorzugehen, um den Eindämmungsring um sein Reich zu sprengen.
Mit England nicht gerechnet Allerdings wollten weder der Kaiser noch seine Generäle einen Krieg gegen England. Kurz vor Kriegsausbruch am 28. Juli 1914 bekam der Kaiser denn auch «kalte Füsse», wenn nach Röhl auch nur vorübergehend. Als sein Kanzler Bethmann Hollweg eine Verständigung mit den Briten vorschlug, lehnte der Kaiser ab. Für Röhl steht fest: auch Russen und Serben waren schuld am Krieg, doch ausgelöst wurde er durch das Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien, das ohne die Unterstützung Wilhelms nicht angedroht worden wäre. «Es wäre nicht zu einem Krieg gekommen, wenn die Deutschen ihren Weltmachtanspruch reduziert hätten», sagt Röhl. Der Historiker beschreibt den Kaiser als schwachen, leicht kränkbaren Mann. «Sobald er sich verletzt fühlte, reagierte er unglaublich aggressiv.» Bei Kriegsbeginn hatte er eine Art Nervenzusammenbruch. Er wurde depressiv. Für die Dauer des Krieges war er geschwächt und konnte das brutale Räderwerk, das seine Generäle Hindenburg und Ludendorff bedienten, nicht mehr stoppen.
Hang zur Brutalität… Allerdings war der Kaiser auch selbst äusserst brutal: Im September 1914 verlangte er beispielsweise, dass man 90'000 russische Kriegsgefangene auf der Kurischen Nehrung verhungern lassen solle, wogegen sich der preussische Kriegsminister aber verwahrte. Auch wollte der damals 55jährige Monarch die besetzten Gebiete in Belgien und Frankreich ethnisch säubern. An der Kriegsführung war er im Detail aber nicht beteiligt, politisch spielte er während des Kriegs aber noch eine Rolle. Er sagte beispielsweise Ja zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg, was die USA in den Krieg drängte.
…und zum Rassismus Die Kriegsniederlage liess den Rassisten Wilhelm gemäss Röhl endgültig zum eliminatorischen Antisemiten werden, der die Vertilgung der Juden forderte. Am 10. November 1918 dankte er auf Drängen von Hindenburg ab und bat in den Niederlanden um Asyl. 1920 verlangten die Siegermächte seine Auslieferung, doch Den Haag lehnte ab. Wilhelm erlebte den Beginn des Zweiten Weltkriegs und beglückwünschte 1940 Hitler zum Einmarsch in Paris. Bis 1941 pflegte er noch seine Rosen und zeigte sich in grosser Uniform. Ob er auch sympathische Züge am deutschen Kaiser entdeckt habe, wird sein Biograph gefragt: «Das vielleicht nicht, aber Mitleid kann man mit ihm haben für die frühen Jahre», sagt Röhl. Wilhelm wurde mit einem verkrüppelten Arm geboren, als Kind mit Stromstössen und Kopfstreckmaschinen gequält, um die Behinderung zu beheben. Das waren wenig angenehme Erfahrungen.
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