«Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen», erklärte Adolf Hitler in einer Reichstagsrede am 1. September 1939. Deutsche Truppen waren in Polen einmarschiert. Das «Zurückschiessen» war zwar inszeniert – als Polen verkleidete SS-Männer täuschten einen Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz vor –, aber bei allem Grössenwahn des «Führers»: Einen Zweiten Weltkrieg wollte er damit nicht entfesseln. «Der Krieg, den Hitler am 1. September 1939 begann, war nicht der Krieg, den er schon immer vorgehabt und geplant hatte», stellt der deutsch-britische Historiker Sebastian Haffner fest.
«Theater in zwölfter Stunde» Fast bis zur letzten Minute hatten die europäischen Mächte versucht, einen Krieg zu verhindern. Hitler-Biograph Joachim Fest spricht von «leidenschaftlichen Friedensbemühungen», einem «Theater in zwölfter Stunde, reich an Scheindialogen, durchsichtiger Verwirrung und mitunter auch grotesken Einlagen». Dabei schien ein Krieg in Europa schon lange unvermeidbar. Für viele Historiker ist der Zweite Weltkrieg denn auch die Fortsetzung des Ersten. Die Zwischenkriegszeit diente demnach nur als Verschnaufpause und Vorbereitung auf den nächsten Krieg. Denn die neue Weltordnung nach 1918 hatte die Probleme, die 1914 zum Krieg führten, nicht gelöst, sondern nur neue geschaffen. Der Vertrag von Versailles von 1919 forderte von Deutschland Gebietsabtretungen und Verzicht auf Kolonien, hohe Reparationszahlungen sowie eine Entmilitarisierung. Diese Auflagen, eine grassierende Inflation und hohe Arbeitslosigkeit schwächten die junge Weimarer Republik. In Deutschland wurde lauthals der Abbau der Reparationen gefordert, die Wiederherstellung der militärischen Souveränität sowie die Rückgewinnung der verlorenen Territorien. Die Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch den Börsencrash von 1929 in den USA, verschärfte die Lage in Europa. Sie führte zu Produktionsrückgang, Preisstürzen und Massenarbeitslosigkeit. Verarmung und politische Radikalisierung waren die Folgen. Die wirtschaftliche Lage war eine der Ursachen für die Erstarkung des Nationalsozialismus und die Machtübernahme durch Hitler 1933. Ein ebenso machtbesessener faschistischer Diktator, Benito Mussolini, herrschte seit 1922 in Italien. Das nationalsozialistische Deutschland ignorierte bald die Auflagen des Versailler Vertrages. 1938 hatte Deutschland das Wirtschaftsniveau der meisten europäischen Länder wieder erreicht oder sogar überflügelt. Die Kriegsvorbereitungen begannen. «Von 1933 bis 1938 gab Deutschland etwa dreimal so viel Geld für militärische Zwecke aus wie England oder Frankreich, eineinhalb mal so viel wie die Sowjetunion und mehr als England, Frankreich und die USA zusammen», schreibt der britische Historiker Robert A. C. Parker. Zunächst sollte in Europa aber noch abgerüstet werden. Im Laufe der 20er- und 30er-Jahre wurde eine Reihe von Abrüstungsabkommen, Nichtangriffspakten und Beistandsabkommen zwischen den europäischen Mächten geschlossen. Mit der Gründung des Völkerbundes 1920, dem auch Deutschland von 1926 bis 1933 angehörte (nicht aber die USA), hoffte man eine friedenserhaltende Institution zu schaffen. Doch die Friedensbemühungen scheiterten an den Umständen. Dennoch waren die europäischen Mächte – inklusive Deutschlands – 1939 noch gar nicht auf einen Krieg vorbereitet. Das nationalsozialistische Deutschland wollte zwar Nachbargebiete annektieren, war aber bei weitem nicht für einen Krieg gegen die Sowjetunion gerüstet. Die Rote Armee war geschwächt durch die stalinistischen Säuberungen, die weit in die Spitze der sowjetischen Militärs reichten. Frankreich war militärisch vor allem defensiv gegen den Nachbarn Deutschland ausgerichtet. Grossbritannien führte erst im Frühjahr 1939 die allgemeine Wehrpflicht ein. Das Land musste seine Kolonien in Asien verteidigen. Japan führte schon seit 1937 Krieg gegen China und hatte Hegemonialansprüche in ganz Asien. «Tatsächlich fühlte sich im Sommer 1939 keine europäische Grossmacht stark genug, um gegen eine andere Grossmacht offensiv vorzugehen», stellt der deutsche Historiker Rolf Ahmann fest. Diese Lage machten sich Europas faschistische Diktatoren zunutze. Von 1935 bis 1939 setzten sie ihre territorialen Interessen durch: Deutschland gliederte das im Versailler Vertrag abgetrennte Saarland ins Deutsche Reich ein und besetzte die entmilitarisierte Zone am Rhein. Österreich wurde ans Deutsche Reich angeschlossen. Im «Münchner Abkommen» setzte Hitler die Abtrennung des Sudetenlands durch und besetzte die Tschechoslowakei. Italien verleibte sich Abessinien und Albanien ein.
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Die Welt sah tatenlos zu. Der Völkerbund hatte keine Möglichkeiten, militärisch einzugreifen und wirksame Sanktionen zu verhängen. Hitler provozierte die europäischen Länder mit unerfüllbaren Forderungen und rechtfertigte dann mit deren Verweigerung seine «berechtigten» Aktionen. So sollte es bald auch mit Polen geschehen. Hitler verlangte die Rückgabe der Freien Stadt Danzig, die unter Aufsicht des Völkerbundes stand, sowie einen exterritorialen Korridor, der Deutschland über polnisches Gebiet mit dem vom Reich isolierten Ostpreussen verbinden sollte. Polen lehnte dies ab, worauf Hitler den bereits geplanten Einmarsch in Polen rechtfertigte: «Nachdem alle politischen Möglichkeiten erschöpft sind, um auf friedlichem Wege eine für Deutschland unerträgliche Lage an seiner Ostgrenze zu beseitigen, habe ich mich zur gewaltsamen Lösung entschlossen.» Bis dahin hatten die europäischen Mächte allen Aggressionen Nazideutschlands hilflos zugesehen, weil sie keinen Krieg provozieren wollten, für den sie nicht gerüstet waren. Dennoch wurde in Europa Krieg geführt: Der Spanische Bürgerkrieg, der 1936 bis 1939 zwischen der demokratisch gewählten Volksfrontregierung und den faschistischen Putschisten unter General Franco ausgetragen wurde, war die Generalprobe für den Weltkrieg. Deutschland und Italien sandten Truppen zur Unterstützung Francos. Die französische Volksfrontregierung unterstützte ihren Gegenpart in Spanien, die Sowjetunion beteiligte sich mit der Organisierung und Unterstützung der Internationalen Brigaden. Grossbritannien verhielt sich weitgehend neutral. Münchner Abkommen 1938: Friede gerettet, Tschechoslowakei geopfertDer Pakt der Diktatoren In diesem Umfeld stiessen die Interessen der Mächte aufeinander. Grossbritannien versuchte noch bis kurz vor Kriegsausbruch Hitler zu beschwichtigen und von Gewalt abzuhalten. Es wurden immer wieder weitgehende Zugeständnisse gemacht, wie etwa mit dem Münchner Abkommen, mit dem der Friede gerettet werden sollte, aber die Tschechoslowakei geopfert wurde. Für Polen aber hatte Grossbritannien ebenso wie Frankreich im März 1939 eine Garantieerklärung abgegeben. Frankreich fürchtete das wiedererstarkte Deutschland, wollte ihm Einhalt gebieten, wusste aber, dass ein Krieg gegen Deutschland nicht zu gewinnen war. «Den Schlüssel für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges» sieht Haffner in der Erklärung Hitlers an den Völkerbundskommissar in Danzig, den Schweizer Karl J. Burckhardt, vom 11. August 1939: «Alles, was ich unternehme, ist gegen Russland gerichtet; wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen und dann nach seiner Niederlage mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden.» Stalin hielt einen Krieg unter den kapitalistischen Ländern für unvermeidlich. Er suchte ein Bündnis mit Frankreich und Grossbritannien – was scheiterte. Hitler musste auf andere Weise in Schach gehalten werden. Das Ergebnis war der Hitler-Stalin-Pakt, schnell und überraschend geschlossen und unterzeichnet am 23. August 1939. Der Nichtangriffspakt mit Geheimprotokollen zur Aufteilung Polens gab den Diktatoren eine Verschnaufpause, in der sie den Krieg gegeneinander vorbereiten konnten. Der sowjetische Aussenminister Molotow sprach am 31. August 1939 von einem «Wendepunkt in der Geschichte Europas und nicht nur Europas allein». Bertolt Brecht aber prophezeite: «Die Regierungen schreiben Nichtangriffspakte. Kleiner Mann schreibe Dein Testament.»
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