Dürrenmatts Schweizbild

Was sind wir Schweizer für Menschen

Die Verdrängung der Weltkriegsrealität interessierte Dürrenmatt, weil sie die ideologischen Voraussetzungen schuf für das Selbstverständnis der Schweiz im Kalten Krieg. Dieser Zusammenhang ist von bleibender Brisanz.



Was hätte Dürrenmatt gesagt? Eine etwas seltsame Frage, aber sie geht mir öfters durch den Kopf, wenn ich den Stand der Debatte über die Schweizer Identität, den Sonderfall, die Neutralität betrachte. Sicherlich, Dürrenmatt ist schon lange ein Schulbuch-klassiker. Er ist seit mehr als zwanzig Jahren tot. Aber dennoch: Wie hätte er reagiert auf die martialische Rhetorik um «Wirtschaftskrieg», «fremde Richter» und das «Kolonialdiktat des US-Imperialismus»? Neuerdings soll unser Land ja gar ein David sein im Kampf gegen fremde Goliathe. Was hätte Dürrenmatt, der Grossmeister der Groteske, der im Gegensatz zu Max Frisch stets als «apolitisch» galt, wohl gesagt zu den jüngsten Arabesken des Sonderfall-Diskurses?
Zunächst stellt sich diese Frage, weil mit der historischen Distanz immer deutlicher wird, dass kaum ein anderes schriftstellerisches Werk so tief in Mist und Humus des Helvetischen wurzelt wie das Schreiben des Emmentaler Pfarrerssohns. Dies zeigt sich sowohl in seinem wiederholten Bekenntnis zu einem komplexfrei bejahten Schweizertum als auch in seiner völlig tabu-freien Kritik desselben. «Ich bin gerne Schweizer. Die Möglichkeit, in einem Staat zu leben, der, wenn etwas schiefgeht, nicht gerade unbedingt eine Weltkatastrophe auslöst, ist eine Chance», sagte er etwa 1966 in einem Interview. Dürrenmatt hatte seine diebische Freude daran, mit solchen Bekenntnissen zu einem illusionsfreien Nationalismus sowohl die strammen Patrioten als auch die linken Vaterlandsverächter zu provozieren. Allerdings spielte er trotz der Anerkennung des schönen Privilegs, ein Schweizer zu sein, schon früh mit dem Gedanken, dass sich die Schweiz auch auflösen könnte in einem Europa der Regionen. «Nur eine Neutralität hat Sinn, die für Europa nützlich ist. Die Neutralität ist ein Vorrecht, das wir uns verdienen müssen, indem wir helfen», schrieb Dürrenmatt um 1950, als würde er erahnen, welche Herausforderung Europa für das Schweizer Selbstverständnis noch bedeuten werde.
Doch nicht nur in seinen politischen Visionen treiben den Schriftsteller Fragen der nationalen Identität um. Die Beschäftigung damit prägt fundamental seine literarischen «Stoffe», deren Aufarbeitung in Form einer intellektuellen Autobiografie er sein grandioses Alterswerk widmete. Dürrenmatts Themen und Obsessionen sind aufs engste mit den Schauplätzen und der Geschichte seiner Heimat verbunden. Die 2011, erst zwei Jahrzehnte nach seinem Tod erschienene monumentale Dürrenmatt-Biografie von Peter Rüedi hat hier manche Aufschlüsse gebracht. Es ist verblüffend, wie bestimmend die Auseinandersetzung mit der Schweizer Identität für Dürrenmatts ganzes Werk gewesen ist, nicht nur für sein politisches Weltbild, sondern auch für sein Selbstverständnis als Schriftsteller.

Blut, Schweiss und Tränen
Vor allem aber hatte kein anderer Schweizer Intellektueller ein so unfehlbares Gespür für die Absurditäten der helvetischen Selbstverklärung. Dürrenmatt kritisierte die Schweiz weniger dafür, was sie tatsächlich ist – das tat er auch, bei Gelegenheit mit lustvoller, barocker Boshaftigkeit –, als vor allem dafür, wie sie sich selber permanent heroisiert. Er stand zur Schweizer Geschichte, mit nüchternem Realismus, mit grosszügiger Empathie. Aber es war ihm unerträglich, dass diese Geschichte stets als Heldenepos erzählt wird.
So stellt sich denn oft der Gedanke an Dürrenmatt ein, zum Beispiel als im Juni auf «20 Minuten online» ein Artikel zu lesen war mit der Überschrift: «Blocher, unser Churchill». Dort hiess es weiter: «Der Bundesrat hat im US-Steuerangriff die Nerven verloren und vorzeitig die Waffen gestreckt. Jetzt braucht‘s einen Schweizer Churchill.» Einen Churchill? Selbstverständlich, was denn sonst. Zwar stand der «20 Minuten»-Artikel unter der Markette «Schräg gedacht». Aber daran, dass der SVP-Führer sich als Churchills helvetische Wiedergeburt versteht, hat sich die Öffentlichkeit ja schon lange gewöhnt.
Der englische Kriegspremier ist bekanntlich eine Symbolfigur des Widerstandswillens gegen das Hitlerreich. Über 43 000 Menschen sind dem deutschen Luftkrieg gegen England zum Opfer gefallen, eine Million Gebäude wurden zerstört, ganze Städte wurden von den Bombergeschwadern der Luftwaffe dem Erdboden gleichgemacht. Mit der Barbarei des Flächenbombardements, mit der mörderischen Bedrohungslage Englands im Sommer 194o vergleicht sich jetzt aber allen Ernstes (oder doch nur im Scherz?) die heutige Schweiz. Wegen eines Steuerstreits? Weil die Schweizer Vermögensverwaltung etwas Marktanteile verlieren könnte? Weil eines der reichsten Länder der Welt unter Umständen eine leichte Einbusse seines Wirtschaftspotenzials erleiden dürfte? Der Vergleich ist dermassen hysterisch, dermassen respektlos vor den Opfern eines Bombenkrieges, dessen Erfahrung wir bekanntlich nie gemacht haben, dass man sich mit dem Ruf nach einem neuen Churchill zum «Widerstand» gegen fiskalische Amtshilfe in jedem Land der Lächerlichkeit preisgeben würde. In jedem Land, aber nicht in der Schweiz. Bei uns gehört es zu etablierten Standard der Politrhetorik, gegen sämtliche äussert Anfechtungen, anlässlich jedes Flughafen-, Schwerverkehrs- oder Zollabkommens, nichts Geringeres als heroische Kompromisslosigkeit einzufordern. Blut, Schweiss und Tränen: Drunter machen es die Festredner in einem der privilegiertesten Länder der Erde nur ungern. Wie Dürrenmatt wohl dieser Groteske ihren Witz abgewonnen hätte?
Zur Schweizer Perspektive auf die Luftschlachten des Zweiten Weltkriegs äussert der Schriftsteller sich jedenfalls in den «Stoffen». Über die in Bern verlebten Kriegsjahre schreibt er: «Oft hörte man amerikanische und englische Bomber, die irgendwo über der Stadt nach Oberitalien einflogen, die Sirenen heulten auf, die Lichtstrahlen der Scheinwerfer durchschnitten die Nacht, die Flugzeugabwehrgeschütze blitzten und dröhnten, alles aufgezogene Theatralik, militärische Neutralitätsgestik, seltsam gefahrlos, idyllisch geradezu, nur das erste Mal stieg man aus den Betten, ging in den Keller. Wer hier, angesichts dessen, was anders geschah, zu heroisieren versucht, macht sich lächerlich.»
Militärische Neutralitätsgestik und die Lächerlichkeit de Heroisierung: Die Passage enthält den Kern von Dürrenmatts Schweizbild. Diese Motive tauchen immer wieder auf, in den «Stoffen» nicht weniger als in zahlreichen Reden und Interviews: Nein, die Schweiz braucht sich nicht dafür zu schämen, ungeschoren davongekommen zu sein. Aber ohne moralische Verfehlungen ist es dabei nicht abgegangen. Dass man das Glück, verschont worden zu sein, zur Heldentat umdeuten will, darin liegt für Dürrenmatt die alles bestimmende Verfehlung der Nachkriegsschweiz. Nicht umsonst ist das vom Autor selber am meisten geschätzte Theaterstück «Herkules und der Stall des Augias»; den Stall vermag in Dürrenmatts Version auch der Halbgott nicht auzumisten. Das Land Elis – eine rasend komische Karikatur unsrer gesegneten Alpenrepublik – versinkt im sich immer höhe auftürmenden Kuhdung, derweil der Nationalheros Herkules zum Zirkusartisten wird, der sein Heldentum zur Unterhaltung des Publikums als Programmnummer vorführt.

Bitterböse Seiten
In «Zur Dramaturgie der Schweiz», einem Text von 1970, heisst es: «Die Schweiz hatte (während der Zeit des Zweiten Weltkrieges) politisch nur eine Aufgabe zu lösen, die alle andern politischen Aufgaben nebensächlich machte, die sich damals noch stellten: Den Krieg vermittels ihrer Politik zu vermeiden, und sie vermied ihn vermittels ihrer Politik. Eine andere Frage ist natürlich, wie sie ihn vermied ... Neutralität ist eine politische Taktik, keine Moral. Neutralität ist die Kunst, sich möglichst nützlich und möglichst ungefährlich zu verhalten. Wir waren auch Hitler gegenüber möglichst nützlich und möglichst ungefährlich. So sparte er uns für die Siegesfeier auf, und wir wurden nicht gefressen ... Unser Davonkommen war nicht vorbildlich, auch eine erfolgreiche Politik hat ihre bitterbösen Seiten. Wir liessen unsere Opfer nicht ins Land oder schoben sie wieder über die Grenze und damit aus unserem Bewusstsein. Wir hatten Verräter, wir erschossen sie, wir hatten Mitläufer, wir vergassen sie, wir hatten Antisemiten, wir haben sie noch.» Erfolgreich, aber nicht vorbildlich: Das ist Dürrenmatts nüchternes Fazit der Schweizer Geschichte.
Als eigentlich fatal erwies sich für den Schriftsteller aber die Unfähigkeit der Nachkriegsgesellschaft, dieser historischen Realität ins Auge zu sehen. «Die Schweiz, schuldlos und schuldig zugleich, aber einfach wieder einmal davongekommen, begann sich in den Mythos eines Widerstandes zu flüchten, den sie nicht hatte leisten müssen.» Die Flucht nach vorn in die Selbstheroisierung ist das wesentliche Merkmal der Nachkriegszeit: «Da wir keine Kriegshelden waren, wollen wir nun wenigstens die Helden des Kalten Krieges sein.» Die «moralische Krise» des Verschontwordenseins bedroht schliesslich den Pragmatismus der Schweizer Politik. Guisans Réduit-Strategie im Zweiten Weltkrieg steht Dürrenmatt bei aller Kritik bejahend gegenüber: Er nennt sie eine «listige Idee». Die Nachkriegsschweiz hingegen «will nicht mehr listig, sie will heldisch sein». Damit benennt Dürrenmatt eine ideologische Macht, die bis heute fortwirkt.
Die Weltkriegsdebatte als solche steht dabei gar nicht im Mittelpunkt. Bezeichnenderweise starben ja mit Frisch und Dürrenmatt Anfang der Neunzigerjahre die beiden wichtigsten Schweizer Nachkriegsintellektuellen, bevor mit dem Skandal um die nachrichtenlosen Guthaben und der zu seiner Beilegung eingesetzten Bergier-Kommission die Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg erst ihren Höhepunkt erreichte. Das ist insofern seltsam, als die Schweizer Literaten jene Debatten, die zu Zeiten des Bergier-Berichtes die Öffentlichkeit am meisten aufwühlten, insbesondere die Schweizer Flüchtlingspolitik und die Frage nach dem hausgemachten Antisemitismus, bekanntlich schon lange geführt hatten. Zwar war der Wortführer der kritischen Kriegsaufarbeitung unbestritten Max Frisch, der mit seinem «Dienstbüchlein» ein eigentliches Genre der nationalen Mythendekonstruktion begründete. Weitere Meilensteine bildeten «Das Boot ist voll» von Alfred Häsler (und der Film von Markus Imhoof) sowie Nildaus Meienbergs «Erschiessung des Landesverräters Ernst S.». Doch Dürrenmatt stand in der Denunzierung der moralischen Verfehlungen der Kriegszeit den genannten Autoren um nichts nach — auch wenn sein Urteil nicht apodiktisch, sondern vielschichtig war. Die Verdrängung der Weltkriegsrealität interessierte Dürrenmatt aber vornehmlich deshalb, weil sie die ideologischen Voraussetzungen schuf für das Selbstverständnis der Schweiz im Kalten Krieg. Dieser Zusammenhang ist von bleibender Brisanz.


Denn nach dem Untergang des Kommunismus produzierte die historische Beschämung über das Verschontwordensein bekanntlich einen ideologischen Drittrundeneffekt: eine geistige Landesverteidigung, die künftig gegen die EU gerichtet sein soll. Die verwaiste Rolle des Nazischergen, gegen den man leider Gottes den Kampf nie hat aufnehmen müssen, übernimmt heute nicht mehr der Rotarmist, sondern der EU-Funktionär oder wahlweise der amerikanische IRS-Beamte. Erneut sieht sich die Schweiz als einsamer Fels in der europäischen Brandung. Erneut sieht sie sich vermeintlich existenzbedrohenden Anfeindungen ausgesetzt, als würden wieder Invasionsarmeen an ihrer Grenze stehen. Erneut will sie «nicht listig, sondern heldisch sein». Die politische Rhetorik verläuft in Bahnen, als müsste das einzige europäische Land, das seit mehr als zweihundert Jahren keinen Krieg geführt hat, jetzt wenigstens im «Wirtschaftskrieg» demonstrieren, dass man nicht «einknickt>, keinen «vorauseilenden Gehorsam» an den Tag legt, als «souveräner Staat> handelt und endlich den Beweis erbringt, dass unsere so beneidenswerte, so komfortable, so unendlich privilegierte Situation weder welthistorischem Glück noch staatspolitischem Geschick, sondern einzig unserer moralischen Unbescholtenheit geschuldet ist. Das bizarre Trauma des Verschontwordenseins scheint immer noch nicht überwunden.

Es gibt keine Neutralität
Auch Dürrenmatt hat selbstverständlich die Widersprüche des Schweizer Nationalbewusstseins nicht ausschliesslich auf die merkwürdige Gleichzeitigkeit von Neutralitätsbekenntnis und Widerstandsmythos zurückgeführt. Ein analoger Widerspruch — heute virulenter denn je — ist jener zwischen der weitläufigen wirtschaftlichen Vernetzung, der offensiven Globalisierung der Schweiz und ihrem mentalen Rückzug ins Réduit. Auf blumige Weise formulierte Dürrenmatt das Paradox kurz vor seinem Tod: «Wer wirtschaftlich so tüchtig mithurt wie die Schweiz, kann politisch nicht als Jungfrau auftreten.»
Bereits in seinem ersten Welterfolg, «Der Richter und sein Henker», erscheint unser Land als schillerndes Zwitterreich aus ländlicher Gemütlichkeit und internationalem, zynisch protegiertem Wirtschaftshub. Dürrenmatts bevorzugte Metapher für den komplexfreien helvetischen Geschäftssinn ist der Waffenhandel oder gleich das internationale Verbrechersyndikat, nicht nur in «Der Richter und sein Henker», sondern auch in den grossen philosophischen Kriminalromanen des Spätwerks, «Justiz» und «Durcheinandertal». Mit «Frank der Fünfte. Oper einer Privatbank» entwirft er schon 1959 das wüste Bild einer Schweizer Finanzindustrie, die kriminelle Aktivitäten als ihr Kerngeschäft versteht, und auch «Der Besuch der alten Dame», Dürrenmatts erfolgreichstes Bühnenstück, ist eine Parabel der Käuflichkeit voller gemütlichem Lokalkolorit.
Aber Dürrenmatt war auch deshalb besonders hellhörig für die Auswirkungen des Verschontgebliebenseins auf die nationale Psyche, weil es für seinen eigenen Werdegang so entscheidend war. Die Schweiz «war einfach von der Weltgeschichte vergessen worden, dispensiert, sitzen gelassen, als Fossil behandelt — auch das kommt ja vor». So beschreibt Dürrenmatt sein Lebensgefühl in den letzten Kriegsjahren. «Es war nicht auszumachen, ob sie (die Schweiz) ein Gefängnis war, eine belagerte Festung oder eine Produktionsstätte für Hitler.» Die Metapher von der Schweiz als Gefängnis – und ganz allgemein das Labyrinth, das Stollensystem, das Spiegelkabinett als Bild der Verworrenheit und Bedrängnis der menschlichen Existenz – wurde ein Leitmotiv des Dürrenmatt'schen Werks.
Aus dem Gefangensein in der Neutralität wollte Dürrenmatt ausbrechen, und die Schriftstellerei schien ihm dazu der einzige Weg: «Diese Groteske des Verschontseins stellte mich endlich vor eine Aufgabe: Die Welt, die ich nicht zu erleben vermochte, wenigstens zu erdenken, der Welt Welten entgegenzusetzen, die Stoffe, die mich nicht fanden, zu erfinden.»
Vor der Forderung der Gerechtigkeit gibt es keine Neutralität. Von dieser Maxime wird schon «Der Richter und sein Henker» bestimmt, das in der Bundeshauptstadt des Jahres 1948 spielende Kriminalstück, in dem die Protagonisten nach langen Auslandsaufenthalten mehr oder weniger gezwungenermassen wieder in der Schweiz gelandet sind, hadernd mit dem Leben in der Provinz. Der bärbeissige Kommissar Bärlach bringt zwar den Bösewicht und Waffenhändler Gastmann zur Strecke, aber nur um den Preis, dass er ihn exekutieren lässt für ein Verbrechen, das Gastmann gar nicht begangen hat. Wer dem Unrecht entgegentreten will, muss sich die Hände schmutzig machen, sich kompromittieren. Obwohl Dürrenmatt sich immer mit Schaudern dagegen verwahrte, ein «engagierter» Literat zu sein, und sich damit dezidiert von Brecht und zeitweilig auch von Max Frisch absetzte — einfach weil er nie an die Reinheit politischer Lehren geglaubt hat, für die er sich hätte engagieren können —, gab es für ihn auch keine künstlerische Warte, die frei schwebend und «neutral» über den Dingen gestanden hätte.

Das Los des Odysseus
Wie unverständlich Dürrenmatt jedoch bis zuletzt für seine Miteidgenossen geblieben ist, das zeigte der krachende Skandal, mit dem er von der Bühne abtrat. Seine Rede «Die Schweiz – ein Gefängnis», die er drei Wochen vor seinem Tod zu Ehren von Vadav Havel hielt, wurde ihm vom politischen Establishment derart verübelt, dass der anwesende Alt-Bundesrat Furgler danach den Handschlag verweigert haben soll. Natürlich war es ein – typisch Dürrenmatt'sches – Bubenstück, ausgerechnet in einer Hommage an Havel, der jahrelang in sehr realen tschechoslowakischen Gefängnissen zugebracht hatte, das Land Schweiz als grosses Gefängnis darzustellen, das sich dadurch auszeichne, dass alle Insassen zugleich ihre eigenen Wärter seien. Die damals brodelnde Fichenaffäre – es gab eine dicke Dürrenmatt-Fiche – dürfte das ihrige dazu beigetragen haben, dass in der Havel-Rede die Schilderung des verwirrlichen Schweizer Gefängnissystems gar nicht mehr aufhören wollte.
Im Grunde hat Dürrenmatt aber auch in dieser Rede nichts anderes gemacht, als die Grundmotive seines Schweizbildes noch einmal auf den Begriff zu bringen. Was die empörte Reaktion unter Beweis stellte, war nicht die Altersradikalität des greisen Autors, sondern das literarische Banausentum der politischen Schweiz, die den Nationalschriftsteller zwar zu Festreden einlud, aber offenbar nicht den leisesten Begriff davon hatte, welche Vorstellung von Heimat er in seinen schon längst zu Klassikern gewordenen Werken entwickelte. «Was sind wir Schweizer für Menschen?», fragt er gegen Ende seiner Rede. Er antwortet: «Vom Schicksal verschont zu werden ist weder Schande noch Ruhm, aber es ist ein Menetekel.» Die «Groteske des Verschont-seins» und die ideologische Verblendung, mit der sie die Schweizer Politik belastet: Sie blieben Dürrenmatts Lebensthema bis zu seinen letzten Texten. Auch heute bilden sie die zentralen Kristallisationspunkte der helvetischen Identität.
Die Aufregung über den Gefängnisvergleich in der Havel-Rede war so gross, dass nicht zur Kenntnis genommen wurde, welch überwältigendes Kompliment Dürrenmatt der Schweiz bei seinem letzten Auftritt auch noch gemacht hat. Wie Plato im «Staat" ausführt, wählte Odysseus nach dem Tod, als seine Seele das Los zu einem neuen Leben ziehen musste, das Schicksal eines möglichst zurückgezogen lebenden, geruhsamen Mannes. «Ich bin sicher», schliesst Dürrenmatt, «Odysseus wählte das Los, ein Schweizer zu sein.»
Der helvetische Nationalschriftsteller schreibt dem Odysseus, Gründungsheros der abendländischen Literatur, also den Willen zu, Schweizer zu werden: eine versöhnliche, nur leise spöttische Geste. Sie dürfte bedeuten, dass die Schweiz – nicht Ithaka – für Dürrenmatt trotz allem die Stätte der definitiven Heimkehr war. Und sie dürfte bedeuten, dass ihm nach der Überwindung des Heldenepos eine Fortführung des Erzählens möglich erschien. Dass die moderne Schweiz, wenn schon nicht zu Weltgeschichte, so doch zu Weltliteratur befähigt wäre.
1990 war das Land allerdings ausserstande, dieses Kompliment zu hören – woran sich bis heute kaum etwas geändert hat. «In der elischen Politik ist es nie zu spät, doch stets zu früh», heisst es im «Stall des Augias». Das scheint auch für Dürrenmatt selber zu gelten.


Quellenangabe

Daniel Binswanger, Das Magazin Nr. 34/2013, 2. September 2013


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