(Quelle: Tages Anzeiger vom 18. Dezember 2008, Autor: Constantin Seibt)-75)
In den USA wird aus aktuellem Anlass heftig über einen toten Präsidenten gestritten: Franklin Delano Roosevelt und seine Antwort auf die Depression von 1929: den «New Deal».
Wenn über Tote gestritten wird, geht es fast nie um die Vergangenheit. Fast immer geht es dabei um die Zukunft. Franklin Delano Roosevelt war ein erstaunlicher Mann: ein Patrizier, der zum Gegner der eigenen Klasse wurde, ein opportunistischer, kaltblütiger Idealist, ein Träumer mit Augenmass, ein entspannter Gelähmter, der sich bei Reden mit umgeschnallten Eisenschienen aufrecht hielt, ein Pokerspieler, ein Kettenraucher, ein Staatsmann und ein Kind: «Vielleicht ist er nie wirklich erwachsen geworden», sagte sein Leibarzt nach seinem Tod. Roosevelt war der kühnste Reformer, der je im Weissen Haus regierte. Als er im März 1933 sein Amt antrat, war Amerika ruiniert: Nach dem Börsencrash 1929 waren von 25 000 Banken 10 000 bankrott, die Industrie war eingebrochen, ein Viertel der Leute arbeitslos. Als er 1945 kurz vor Ende des Weltkriegs starb, siegte Amerika nicht nur militärisch. Es war auch der Motor für einen in der Geschichte beispiellosen Wirtschaftsboom, der über 30 Jahre anhielt. Es ist also kein Zufall, dass Roosevelt wieder aus den Geschichtsbüchern in die Zeitungen zurückkehrt.
Sohn und Gentleman Roosevelt wuchs in einer Welt auf, die er später zerstören half: in der Welt der Superreichen. Franklin war das einzige Kind einer New Yorker Patrizierfamilie, die grosse Liebe seiner Mutter. Die gesamte Kindheit sah er fast nur sie, das Personal und den riesigen Park. Diese erste Liebe prägte ihn fürs Leben. Nichts je schien die Zuversicht seiner frühen Jahre zu erschüttern. Er war der Präsident, der im dunkelsten Moment der Krise den Satz prägte: «Wir haben nichts zu fürchten ausser der Furcht selbst.» Und noch etwas lernte er, wie viele geliebte Söhne: Heimlichkeit. Schon früh führte er sein Tagebuch in Geheimschrift - ein sicheres Indiz, dass er annahm, dass seine Mutter es las. Bei allem Charme würde ihm nie jemand ins Herz sehen. Er blieb als Politiker grossherzig, unergründlich und skrupellos: als «Jongleur, dessen rechte Hand nicht weiss, was seine linke tut», bezeichnete er seine Taktik in der Politik. Seine Karriere machte der höchst mittelmässige Schüler fast traumwandlerisch: Er folgte schlicht seinem Vetter Theodore Roosevelt, der 1901-1909 für die Republikaner Präsident war. Wie zuvor Theodore liess sich Franklin ins Parlament von New York wählen, wie er arbeitete Franklin während des Ersten Weltkriegs als hoher Manager in der Marine, wie er kandidierte er jung 1920 als Vizepräsident. Franklin galt als Star der Demokratischen Partei, nicht zuletzt, weil er ein harter Kämpfer gegen die Korruption war: in der Partei selbst wie gegen reiche Gönner. «Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist zu gross, er muss geringer werden», erklärte er. «Und wer für sein Brot nicht sorgen muss, ist dabei freier. Wer von unten kommt, macht bittere Erfahrungen und liebt die Menschen weniger. Aufsteiger haben Ressentiments, ich nicht.» Dann knickten am Morgen des 10. August 1921 beim Rasieren seine Beine ein, am nächsten Tag war er von der Brust an gelähmt. Die Ärzte brauchten Monate, bis sie die Kinderlähmung entdeckten - heute vermutet man, dass der Grund das Behütetsein seiner Kindheit war: Er war schlicht zuvor nie mit dem Virus in Kontakt gekommen. Roosevelt kämpfte sieben Jahre lang um seine Gesundheit. Dann gab er auf. Er tat nie wieder einen Schritt ohne Hilfe.
Der Fehler in der Maschine Am 24. Oktober 1929 krachte in New York die Börse zusammen; Tage später waren 10 Milliarden Dollar vernichtet, die ersten Banker stürzten aus den Fenstern. Drei Jahre später waren 13 Millionen arbeitslos, die Schwerindustrie zerstört, Slums wuchsen in den Städten. «Irgendeine ungeheure Gewalt ist in den Mechanismus gefahren», schauderte der republikanische Präsident Herbert Hoover und arbeitete 18 Stunden am Tag, während alles immer schlimmer wurde. Was war passiert? Rückblickend lag es an einem intellektuellen Problem. Hoover reagierte mit den republikanischen Rezepten: Er sparte, um das Budget auszugleichen, ansonsten vertraute er den Selbstheilungskräften der Wirtschaft. Dabei übersah er eine Höllenmaschine: Die Währung der USA war damals wie viele anderen mit Gold gedeckt. Der Staat verpflichtete sich, jederzeit für Dollars Gold herauszugeben. Die Notenbanken musste also riesige Mengen davon horten. Und wenn die Leute zu viel Gold eintauschten, musste man dieses wieder hereinholen. Die Notenbank machten dies, indem sie die Zinsen erhöhte: Dann lohnte sich Bargeld und die Leute tauschten zurück. In der Krise passierte nun Folgendes: Aus Angst tauschten Millionen ihre Dollar gegen Gold. Dadurch musste die Notenbank die Zinsen Runde um Runde erhöhen. Mitten in der Krise wurden Kredite dadurch teurer und teurer - ein tödliches Gift für eine kranke Wirtschaft. Hoover sah es nicht, weil er an das Dogma der Stabilität glaubte: stabile Budgets, stabile Wechselkurse. Roosevelt hatte die Krise erhofft. «Die Geschäftswelt ist nicht an einer sauberen Regierung interessiert, solange die Börsenkurse steigen», schrieb er 1929, Monate vor dem Crash. «Solange man sie in Ruhe lässt, sind sie mit republikanischer Kontrolle zufrieden.» Nach dem Platzen der Blase aber, hoffe er, dass die demokratische Partei «eine gesunde Radikalität» besitze, die sie wieder an die Macht führe. In der Wahl 1932 besiegte Roosevelt den unglücklichen Hoover im Wahlkampf - ohne gross sein Programm zu verraten. Am Tag seiner Amtseinführung sagte er: «Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst», und versprach einen New Deal: «Dieses Land verlangt fortgesetztes, gewagtes Experimentieren.» Am Tag danach schloss er sämtliche Banken für einige Tage - um sie auf ihre Gesundheit überprüfen zu lassen. Nicht alle öffneten wieder. Dann schaffte er die Goldpreisbindung des Dollars ab. Und erliess in hundert Tagen eine enorme Flut von Gesetzen. Über Nacht wurden Dutzende von Behörden aus dem Boden gestampft: eine Börsenaufsicht, ein gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm zur Verbesserung der amerikanischen Infrastruktur, erste rudimentäre Sozialwerke, ein Büro für Kunstsubventionen, dazu kamen Verordnungen zu Mindestlöhnen und Preisen, die Stärkung der Gewerkschaften, eine Versicherung für Sparer, Umweltprogramme. Der New Deal war ein Chaos - Roosevelt beschäftigte eine Heerschar von Bürokraten, Idealisten, Intellektuellen, die ihre Behörden entwarfen. Aber das, so Roosevelt, störte nicht: «Es ist gesunder Menschenverstand, es mit einer Methode zu versuchen und, wenn es scheitert, es mit einer anderen zu versuchen. Vor allem muss man etwas versuchen!
|
Der Kampf um den New Deal Der Schock des New Deal spaltet die Amerikaner bis heute: Republikanische Publizisten schreiben, der New Deal habe die Krise «nur verlängert». Roosevelt habe die Bürokratie wuchern lassen, das Defizit gesteigert und mit Steuererhöhungen und gesetzlichen Mindestlöhnen die Investitionen abgewürgt. Die demokratischen Ökonomen, darunter der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, verteidigen Roosevelt. Zum Ersten habe er - anders als Hoover - die psychologische Komponente der Krise begriffen: Tatkraft und Hoffnung seien die halbe Miete - fast egal, was man tue: nur viel. Schon deshalb sei es nach Roosevelt Amtsantritt wieder aufwärtsgegangen. Roosevelts grösste Fehler, so Krugman, sei nicht seine Radikalität gewesen, sondern sein Mangel an Radikalität. Tatsächlich kürzte Roosevelt nach seinem Wahlsieg 1937 - als Anhänger eines schlanken Staats - viele New-Deal-Programme, worauf ein weiterer Crash folgte. Dadurch, dass er zu wenig Defizite riskierte, habe er sein Werk selbst fast wieder abgewürgt. Tatsächlich ging die Wirtschaft ab 1941 dank des Weltkriegs richtig steil aufwärts: durch die Beschäftigung von Millionen von Soldaten und durch gigantische Geldspritzen in die Rüstungsindustrie.
Roosevelts Erbe: Die Mittelklasse Roosevelt selbst nahm das Auf und Ab wie ein gelassener Pokerspieler: «Man muss Fehler machen. Und Kompromisse. Hauptsache, es funktioniert.» Und ergänzte: «Man kann in diesem Job wirklich viel Spass haben.» Er starb im Frühling 1945, zu Tode erschöpft, mit dem Versuch eines Lächelns auf dem Gesicht. Sein Denkmal waren Staudämme, Strassen, Nationalpärke, Börsenaufsicht, Arbeitslosenversicherung, der Plan eines Nachkriegseuropa - aber sein wichtigstes Werk war die Erfindung der amerikanischen Mittelklasse. Mit drastischen Spitzensteuersätzen (die von 45 Prozent schnell auf 77 Prozent stiegen) halbierte Roosevelt das Vermögen der Superreichen, die zuvor Amerika beherrscht hatten. Mit Steuersenkungen fürs Kleingewerbe und der Stärkung der Gewerkschaften erhöhte er das Einkommen der Unterschichten: Das politische Resultat war der Ruin der 30-Zimmer-Villen-Elite, in der Roosevelt selbst aufgewachsen war - und eine breite, langweilige Mittelschicht, in denen einige reicher, andere ärmer waren, aber alle ähnlich. In einigen wenigen Jahren - so Krugman - schaffte Roosevelt durch politische Massnahmen, die Normen in Amerika zu ändern. Wo vorher reiche Familien selbstverständlich dominiert hatte, war nun eine gewisse Gleichheit selbstverständlich. «Wir wussten immer, dass krasser Egoismus unmoralisch ist», sagte Roosevelt. «Aber nun wissen wir, dass er auch noch schlechte Geschäfte macht.» Ganz falsch schien dies nicht: Die langweilige Mittelklasse schaffte einen Wirtschaftsaufschwung, der geschichtlich ohne Vergleich ist. Heute sieht Amerika wieder sehr anders aus: Die Einkommensverteilung zwischen Superreichen und dem Rest ist in Amerika wieder so ungleich wie zu Roosevelts Amtsantritt. Die Banken zittern wieder am Abgrund, der Kreditmarkt ist fast trocken. Und zehn Prozent aller Amerikaner beziehen wieder Essensmarken. Kein Wunder, wird wieder um Roosevelt gestritten.
|