Verdun - vom Tod zum Leben gewendet

Die traurige Geschichte der alten Festungsstadt

(Artikel aus dem St. Galler Tagblatt, 13. März 2001)

Neben Grossstädten wie St. Petersburg, Hiroshima oder Berlin gehört die kaum 20 000 Einwohner zählende lothringische Provinzstadt Verdun zu den rund Dutzend «Märtyrerstädten» der Erde. Die viel umkämpfte Kleinstadt will sich vermehrt der Gegenwart und Zukunft zuwenden.


Angriff Deutsche Infanteristen verlassen die Schützengräben um die Höhe 'Le mort homme' zu erstürmen, 15. März 1916



Zweifelsohne gehört Verdun, ursprünglich eine römische Siedlung (Virodunum), auf halbem Wege zwischen der fränkisch-königlichen Krönungsstadt Reims und dem alten Bischofssitz Metz, zu den am heftigsten und häufigsten umkämpften Stätten Europas. Frankenkönig Chlodwig war im 6. Jahrhundert der erste Merowinger, der die Hand auf die gallorömische Kleinstadt legte.
In die Annalen der Weltgeschichte trat das Städtchen an der Maas im Jahr 843 ein, als sich die Enkel des Frankenkönigs Karls (des Grossen) in Verdun nach Bruderkrieg und zweijährigen Verhandlungen per Vertrag einigten, das Grossreich ihres Grossvaters in Frieden zu teilen und zu besitzen: Aus dem Ostreich Ludwigs («der Deutsche») erwuchs Deutschland und das Heilige Römische Reich, aus dem Westreich Karls («des Kahlen») ein neues Frankenreich, und schliesslich erhielt der dritte Sohn Lothar den mittleren Teil rechts und abwärts der Schelde, gab dazu einem Teil seines Herrschaftsgebiets seinen Namen: Lothringen. Nach 1880 war Verdun erneut mit einem massiven, steinernen Festungsgürtel aus mehreren Forts befestigt worden. Diesmal grub man sich ein, baute in die Tiefe der Erde Kasematten für Soldaten, mit dicken Wänden, mit Küchen, Latrinen und riesigen Vorrats- und Munitionskammern. Die neuen Forts Douaumont, Vaux und Souville sowie die Zitadelle von Verdun bildeten nun die Bollwerke.

Uneinnehmbar für die Deutschen
Im Ersten Weltkrieg ging der deutsche Vorstoss über das neutrale Belgien (Schlieffen-Plan von 1898). Die Festung Verdun von Osten her zu stürmen, hatten selbst die mutigsten preussischen Generäle nicht gewagt. Von Norden her sollte am 12. Februar 1916 ein bombastischer Angriff mit drei Armeekorps losbrechen. Aber das Wetter spielte nicht mit. Erst am 21. Februar um 8 Uhr war es so weit: Mehr als 1400 Geschütze begannen zu feuern. Rund 2,5 Mio. Artilleriegeschosse stürzten auf die Festungsanlagen sowie die Stadt Verdun. Neuartige Minenwerfer wurden ebenso eingesetzt wie Gasgranaten, erst Reizgas, später auch Senfgas. Die ersten Gasangriffe wurden vom Breslauer Chemiker Prof. Fritz Haber (Nobelpreis für Chemie 1919) und seinem Assistenten Otto Hahn persönlich geleitet. Doch die Sieger des Kriegs 1870/71 täuschten sich diesmal im Widerstandsvermögen, das die französischen Verteidiger entgegensetzten. Truppenreserven standen im Hinterland schnell zur Verfügung. Die zahllosen Lastwagen, die die Verteidiger einsetzten, entschieden nach späterer Auffassung eines deutschen Generals «die Schlacht von Verdun».


In kürzester Zeit brachten die Franzosen genügend Reserven an Mannschaften, Material und Munition an die weitgehend eingeschlossene Stadt heran. Ende Februar 1916 hatten zwar die deutschen Angreifer rund 10 000 Gefangene gemacht, 65 Geschütze erobert, sogar das als uneinnehmbar geltende Fort Douaumont besetzt, trotzdem konnte die teilweise zerstörte Stadt Verdun nicht eingenommen werden. Auch nicht im Frühjahr oder Frühsommer 1916, als das Wetter besser und die Angreifer mobiler wurden. Die Losung des französischen Generals Pétain lautete: «Ils ne passeront pas!» («Sie werden nicht durchkommen!») Es kam für Angreifer wie Verteidiger «die Hölle von Verdun»: Unendlich lange mit Regenwasser gefüllte Schützengräben, Granattrichter, aufgewühlte Erde, Schlamm, Sumpfgelände, das zu durchqueren war, bevor man auf meterdicke Stacheldrahtverhaue, auf feindliche Bajonette und einen todesmutigen Soldaten traf. Nur zögernd erholte sich Verdun nach Kriegsende von diesen Strapazen. Auf eine halbe Million Soldaten schätzt Pierre Marie, Stellvertreter des Bürgermeisters von Verdun, die Verluste. Allein an den ersten drei Angriffstagen im Februar 1916 hatten die drei deutschen Armeekorps über 25 000 Mann verloren! Die Schlacht von Verdun kostete rund 300 000 deutschen Soldaten das Leben. Ihren tapferen Verteidigern errichtete die Stadt Denkmäler auf den Höhen der ehemaligen Schlachtfelder. Heute sind die Forts Douaumont und Vaux zu Schauplätzen für Besucher geworden.

Auf Militär angewiesen

Doch Pierre Marie sagt, Verdun sei auch eine «Friedensstadt». Seit 1996 beherbergt sie ein Internationales Friedenszentrum im ehemaligen Bischofspalais. Historisch bedeutungsvoll sei das Treffen auf den Schlachtfeldern von 1984 zwischen Staatspräsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl gewesen. Allerdings ist das wirtschaftliche Wohl der Stadt an der Maas immer noch sehr an das Militär und dessen Präsenz geknüpft. Seit die Wehrpflicht in Frankreich abgeschafft wurde, geht die Anzahl der Kasernen und Soldaten in der alten Garnisonsstadt kontinuierlich zurück. Die Arbeitslosigkeit nahm deshalb zu. Sie liegt leicht über dem nationalen Durchschnitt. Auch der nie abgeebbte «Verdun-Tourismus» verändere sich allmählich, sagt der städtische Pressesprecher: «Die Leute weinen nicht mehr, wenn sie nach Verdun kommen! Es sind heute andere Touristen als früher. Sie besichtigen zwar das «Freilicht-Museum» auf den Schlachtfeldern, die stehen gelassenen Schützengräben, Drahtverhaue und Minenfelder, aber letztlich suchen sie doch auch Vergnügen und Frohsinn in Verdun.»


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