Der erste industrialisierte Krieg

(Artikel aus dem Tages Anzeiger, 25. Juni 2004)

Vor 90 Jahren, am 28. Juni 1914, wurde der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, in Sarajewo ermordet. Wie konnte darauf ein Weltkrieg folgen?




Noch Mitte Mai 1914 feierte die NZZ die Landesausstellung in Bern als Ausdruck "lebenssprühender Zeit". Zehn Wochen später verwandelte sich Europa in ein Schlachthaus. Thomas Mann setzte seinem in Davos spielenden Roman "Der Zauberberg" (1924) einen "Vorsatz" voran. Darin beschreibt er sich ironisch als "raunenden Beschwörer des Imperfekts", der eine Geschichte erzähle, die sich "vor einer gewissen, Leben und Bewusstsein tief zerklüftenden Wende und Grenze" zugetragen habe. Er meinte "die Welt vor dem grossen Kriege". Den Kriegsausbruch hatte Mann noch enthusiastisch als "Reinigung", "Befreiung" und "ungeheure Hoffnung" begrüsst. Der melancholische Ton von 1924 verdankt sich dem nunmehr ungetrübten Blick in den Abgrund, der sich 1914 öffnete.
In Frankreich und in England heisst der Weltkrieg von Anfang an und bis heute "der grosse Krieg", in dem Historiker aus der Distanz "die grosse Urkatastrophe dieses Jahrhunderts" (George Kennan 1979) erkannten: Über 13 Millionen Männer aus der ganzen Welt wurden als Soldaten eingezogen, darunter auch 331 000 Australier, von denen 47 995 starben. Insgesamt kamen mehr als 6 Millionen Soldaten ums Leben. Darin enthalten sind die Opfer der Grippeepidemie von 1918.
Der Krieg war auch ein "grosser Transformator" (Hans-Ulrich Wehler), der das Kriegsbild und die Schlachtfelder revolutionierte, einen technologischen Innovationsschub und eine nationalistische Mobilisierung in Gang setzte sowie - nach 1918 - einen kurzen Demokratisierungsschub.

In den Krieg getrieben
Die Weltkriegskonstellation hatte sich seit den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts in zwei Bündnissystemen herausgebildet. Dem Zweibund von Österreich-Ungarn und dem Deutschen Kaiserreich stand das Bündnis Frankreichs mit Russland gegenüber, das sich 1904 durch die Entente cordiale zwischen Grossbritannien und Frankreich zum Dreibund erweiterte. Die Spannungen zwischen den Bündnissen stiegen im Zuge der Aufrüstung in allen Ländern. Vor allem den schnellen Ausbau der deutschen Schlachtflotte nahm die englische Regierung als Angriff auf ihre Vorherrschaft auf den Weltmeeren wahr. Als Gefahr registrierte Frankreich die demografische Überlegenheit des Deutschen Kaiserreichs und den "archaischen Militarismus" (Michael Howard), den die Berliner Führung und Kaiser Wilhelm II. förderten.
Einen Dauerkrisenherd bildete der Balkan, wo sich österreichisch-ungarische, russische und osmanische Ansprüche auf der einen Seite und nationale Ansprüche Serbiens, Bosniens und Montenegros auf der anderen Seite hochschaukelten. Nach dem Attentat auf den Thronfolger am 28. Juni 1914 durch serbische Nationalisten bestärkte die Berliner Führung den österreichischen Kaiser in seiner Ultimatumspolitik gegenüber Serbien, mit der man Russland herausforderte. In Berlin setzten sich Kaiser und Generalstab gegenüber der politischen Führung durch und zwangen diese zum "Sprung ins Dunkle" (Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg). Der Marineminister sprach offen von einem "Eventualpräventivkrieg".
Die deutschen Militärs befürchteten zwar einen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland, aber sie glaubten, mit einem sechswöchigen Blitzkrieg zuerst Frankreich und danach Russland besiegen zu können. Der von Helmut von Moltke (1848-1916) überarbeitete "Schlieffenplan" für den Krieg im Westen beruhte auf fahrlässigen Spekulationen und nahm obendrein die Verletzung der belgischen Neutralität in Kauf, was England, das diese seit 1831 garantierte, zum Kriegseintritt zwang. Europa schlitterte also nicht, wie es lange beschönigend hiess, in den Krieg, sondern wurde durch das Vabanquespiel in Wien und Berlin in diesen hineingetrieben. Der deutsche Botschafter in London warnte ebenso vergeblich wie der badische Diplomat Graf Berckheim davor, dass dieses Spiel in den "Krieg aller gegen alle" führen werde.


Verheerende Waffen
Nachdem Belgien dem ultimativen Verlangen nach freiem Durchmarsch erwartungsgemäss nicht nachkam, fielen deutsche Truppen am 3. August 1914 zunächst in Belgien, dann in Frankreich ein. Innerhalb von zwei Wochen standen die wichtigsten europäischen Staaten im Krieg. Schon Anfang September kam der deutsche Vormarsch in der Mitte an der Marne ins Stocken, während der rechte Flügel bis 80 Kilometer vor Paris gelangte. Nun begann, was man verharmlosend eine "Materialschlacht" und zutreffend eine gegenseitige "Blutabzapfung", so der deutsche Generalstabschef Erich von Falkenhayn (1861-1922), nannte.
Die infanteristischen Fronttruppen gruben sich in gestaffelten Schützengräben ein, aus denen heraus sie vorzustossen versuchten und dabei von der rückwärtigen Artillerie unterstützt wurden. Technisch verbesserte Artilleriegeschütze mit schwereren Geschossen und grösseren Reichweiten waren die verheerendsten Waffen. Drei Viertel der Toten waren Opfer dieser Waffen des industrialisierten Krieges. 1914 kamen auf einen Kilometer Front 49 Geschütze, 1917 waren es 70. Diese überzogen vor Sturmangriffen während Stunden und Tagen die feindlichen Stellungen. Auf einen zehn Kilometer breiten Frontstreifen prasselten bei Verdun in einer Woche bis zu 80 000 Tonnen Stahlmantelgeschosse und verwandelten die Gegend in eine Mondlandschaft.
Die Verluste an Menschenleben waren enorm. Beim Sturm auf einen Hügel namens Chemin des Dames wurden 1917 in zwei Tagen 147 000 französische Soldaten getötet oder verwundet. Im Prestigekampf um Verdun - das seither als Symbol für eine menschenverachtende militärische Strategie steht - verloren auf beiden Seiten rund 500 000 Soldaten ihr Leben.
Der Krieg im Osten verlief zwar weniger dramatisch, aber allein die russischen und österreichischen Truppen büssten zusammen über zwei Millionen Soldaten ein. Im Frieden von Brest-Litowsk (3. März 1918), der nach der Niederlage des deutschen Kaiserreichs hinfällig wurde, diktierte Berlin dem schwachen Sowjetstaat Leistungen, die jene des Versailler Vertrags (28. Juni 1919) gegenüber Deutschland weit übertrafen.
Der Krieg an der Westfront war auch ein Schlachtfeld der mörderischen Waffenexperimente. Deutsche Truppen eröffneten am 22. April 1915 bei Ypern den Gaskrieg, den die britische Regierung als völkerrechtswidrig bezeichnete, was sie nicht davon abhielt, ihre Truppen mit Gasgranaten aufzurüsten. Beide Seiten experimentierten mit Flugzeugen für Aufklärungszwecke wie für Bombardements von Städten. Die Briten überraschten die deutschen Truppen am 15. September 1916 an der Somme mit Panzern bzw. Tanks - so genannt wegen ihrer Ähnlichkeit mit Wassertanks -, während die deutsche Führung auf U-Boot-Einsätze setzte.
Schon am 22. September 1914 versenkte ein deutsches U-Boot an einem Tag drei britische Kreuzer im Ärmelkanal, wobei 1500 Soldaten umkamen. Die Briten antworteten mit einer Seeblockade, um Deutschland von der Versorgung aus Übersee abzuschneiden. Darauf begannen deutsche U-Boote, britische Handelsschiffe zu versenken mit dem illusorischen Ziel, England auszuhungern. Technische Innovationen und taktische Schutzmassnahmen der Briten sorgten jedoch dafür, dass die geplante Zahl von Schiffsversenkungen nur während zweier Monate erreicht wurde. In einem Verzweiflungsakt verkündete die deutsche Führung daraufhin am 31. Januar 1917 den völkerrechtswidrigen, unbeschränkten U-Boot-Krieg gegen zivile Schiffe und provozierte den Kriegseintritt der USA am 5. April 1917 und damit die sichere Niederlage.

Militärische Quasidiktatur
Spätestens mit der Berufung von Paul von Hindenburg (1847-1934) zum Oberbefehlshaber des Heeres am 29. August 1916 wurde der Krieg von deutscher Seite her zum "totalen Krieg". Dafür sorgte Generalquartiermeister Erich Ludendorff (1865-1937), der zusammen mit Hindenburg eine "Quasidiktatur" (Stig Förster) errichtete. Fortan steuerte das Militär nicht nur militärische Operationen, sondern auch die kriegsrelevante Produktion und die Verteilung von Ressourcen und Nahrungsmitteln. Kriegsinvestitionen (in Deutschland drei bis vier Milliarden Mark im Monat) und Kriegsgewinne stiegen, während die Bevölkerungen in Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland hungerten und verarmten und sich die militärische Lage verdüsterte. Die Bilanz: 1917 folgte die Oktoberrevolution in Russland, 1918 die Novemberrevolution in Deutschland und die Republikanisierung Österreichs. Die drei Monarchien verschwanden, instabile Staaten entstanden.


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