Wilhelm Tell

Willhelm Tell: Viel Dichtung, wenig Wahrheit

(Artikel aus der Zeitschrift "P.M.History" Nr. 6/2000)


Einleitung

Dieser Held zählt bis heute zur Prominenz unter den Freiheitskämpfern. Jeder kennt den Schweizer, den Patrioten, der die Bürger von Uri, Schwyz und Unterwalden ermutigte, sich gegen die Fremdherrschaft aufzulehnen: Willhelm Tell. Er ist seit siebenhundert Jahren tot, doch seine Geschichte lebt weiter. War dieser Mann ein Draufgänger, ein Idealist, ein Sturkopf oder ein Phantom? Die Legende beschreibt Tell als frommen Landmann, der nicht bereit war, den Terror des österreichischen Vogts Hermann Gessler hinzunehmen. Gessler hatte einen Hut aufstellen lassen, dem die Untertanen Reverenz zu erweisen hatten. Ägidius Tschudi, der im 16. Jahrhundert die Ereignisse als erster ausführlich beschrieb, berichtet, Tell habe sich geweigert, den Gesslerhut zu grüssen. Zur Strafe musste er die Armbrust auf den eigenen Sohn richten und einen Apfel von dessem Kopf schiessen. Der Held traf den Apfel, und damit wäre die Sache erledigt gewesen, hätte er nicht noch einen zweiten Pfeil bereit gehalten.

Auf die Frage, wozu er diesen brauche, antwortete Tell ehrlicher-, aber unvorsichtigerweise, er habe Gessler erschiessen wollen, wenn er den Sohn verletzt hätte. Der unbeugsame Untertan wurde daraufhin verhaftet. Das Schiff, das ihn ins Gefängnis auf der anderen Seite des Vierwaldstätter Sees bringen sollte, geriet jedoch durch einen Sturm in Seenot und der Gefangene konnte fliehen. In der hohlen Gasse bei Küssnacht lauerte er Gessler auf und schoss ihm einen Pfeil ins Herz. Wenig später stürmten die Eidgenossen von Uri, Schwyz und Unterwalden, die sich kurz zuvor auf dem Rütli verbündet hatten, die Burgen der verhassten Habsburger und vertrieben sie. Eine schöne Geschichte: rührend, patriotisch und voller Freiheitsdrang. Fast zu schön, um wahr zu sein.


Rütlischwur Das Fresko aus der Kirche von Sankt Gallen zeigt die Schweizer beim Rütli-Schwur, der allerdings historisch nicht verbürgt ist.


1. Problem: der Mangel an Beweisen

Den wahren Teil haben die Wissenschaftler bis heute nicht gefunden. Die Geschichte seiner Heimat ist jedoch hinlänglich bekannt: In den so genannten Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden liessen sich im Laufe der Jahrhunderte Räter, Helvetier, Römer und Alemannen nieder und vermischten sich. Sie lebten mehr schlecht als recht vom Ackerbau, später auch von Viehzucht. Die grosse Politik tangierte sie wenig: In den Bergtälern liessen sich die jeweiligen Herrscher, die das Land gerade für sich beanspruchten, nur selten blicken. Im sechsten Jahrhundert wurde das Gebiet der heutigen Schweiz von den Franken erobert, später gehörte es zum Herzogtum Schwaben, ab dem 11. Jahrhundert war es dem deutschen König untertan. Als das Land um den Vierwaldstätter See durch die Öffnung des Gotthardpasses wirtschaftlich und politisch an Bedeutung gewann, erhielten Uri und Schwyz – zum Missfallen der Habsburger – die Reichsunmittelbarkeit: Sie durften sich selbst verwalten und hatten ihre eigene Rechtsprechung.

Erst als Rudolf von Habsburg 1273 den Königsthron bestieg, begann eine neue Ära: Der Monarch interessierte sich sogar für abgelegene Bergtäler, denn seine Familie besass grosse Ländereien und ausgedehnte Herrschaftsrechte auf dem Gebiet der heutigen Schweiz und war bestrebt, diese Hausmacht zu einem Territorialstaat auszubauen. Besonders die Waldstätten rückten ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit, denn er wollte sie mit Reichsrecht dem Familienbesitz eingliedern. Der Ärger begann, als die Habsburger Vögte einsetzten, die sich um die Verwaltung kümmern sollten. „Fest steht, dass die Gegenwart ihrer Ministerialen, die sie als Statthalter einsetzten, als Einmischung und Anmassung empfunden wurde“, schreibt Jean-François Bergier in seinem Buch „Wilhelm Tell – Realität und Mythos“. Diese Einmischung „störte das empfindliche gesellschaftliche Gleichgewicht in den Talgemeinschaften; sie komplizierte das tägliche Leben; sie brachte neue Lasten und zehrte am Einkommen der Bauein; sie brachte fremde Massstäbe in der Rechtsprechung, sie erzeugte Misstrauen und Unsicherheit.“ Als Rudolf 1291 starb, nutzten die Bewohner von Uri, Schwyz und Unterwalden das vorübergehende Machtvakuum, um einen Bund zu schliessen. Vor diesem historischen Hintergrund trat Wilhelm Tell auf oder auch nicht.


Bürglen Wilhelm Tell soll in Bürglen, im Süden des Urner Sees, geboren sein. Dort richtete man in einem mittelalterlichen Wehrturm für ihn ein Museum ein.


2. Problem: fragwürdige Quellen

Aufgeschrieben wurde seine Geschichte erst zweihundert Jahre später. Im 15. Jahrhundert taucht Teil in einem Lied und in einer Chronik auf – allerdings noch nicht als tapferer und unbeugsamer Freiheitskämpfer, sondern eher als eine Randfigur. Das „Lied von der Entstehung der Eidgenossenschaft“ aus dem Jahre 1477 berichtet: „Der Landvogt sprach zu Wilhelm Tell, vernimm nun meinen Befehl: ‚Triffst du den Apfel nicht mit dem ersten Schuss, so nützt alles nichts, es kostet dich dein Leben.’ Da bat Tell Tag und Nacht Gott darum, dass er den Apfel in einem Schuss träfe, was die Landvögte verärgern würde. Gottes Kraft gab ihm das Glück, dass er mit seiner ganzen Meisterschaft so geschickt schiessen konnte. Als er den ersten Schuss getan und einen Pfeil in sein Wams gesteckt hatte, sprach er: ‚Wenn ich mein Kind erschossen hätte, wäre es meine feste Absicht gewesen – und ich sage dir, Landvogt, die reine Wahrheit – dich zu erschiessen.’ Dadurch erhob sich eine mächtige Bewegung, daraus ging der erste Eidgenosse hervor.“ Aus derselben Zeit stammt das „Weisse Buch von Sarnen“, in dem auch der berühmte Apfelschuss erwähnt ist. Anders als im Bundeslied tritt der Held „Tell“ hier nicht als Befreier des Vaterlands auf. Sein Schicksal steigert jedoch die allgemeine Erbitterung und Empörung gegen die Habsburger Tyrannen und verursacht so – indirekt – den Aufstand der Eidgenossen.

Wie war es wirklich? Schwer zu sagen: Man weiss nicht einmal. woher die Autoren ihre Informationen hatten: Benutzten sie Quellen, die heute nicht mehr auffindbar sind, weil sie Bränden, Überschwemmungen oder Mäusefrass zum Opfer fielen? Oder wurde die Tell-Geschichte mündlich weitergegeben?m Mittelalter konnten nur wenige Menschen lesen und schreiben, man war daher aufs Erzählen angewiesen. Auf die mündliche Überlieferung ist allerdings wenig Verlass, betont der Historiker Bergier: „Wie hätte, ein kollektives Erinnerungsvermögen über sechs oder sieben Generationen hinweg eine Folge von Ereignissen so exakt überliefern können, ohne sie zu entstellen, zu schönen oder zu idealisieren?“ Möglicherweise war der Mann, der später der Nationalheld der Eidgenossen werden sollte, nicht einmal Schweizer.


Tellskapelle Der gefangene Tell soll mit dem Boot von Altdorf ins Gefängnis nach Küssnacht gebracht werden. Ein Föhnsturm treibt das Boot nahe ans Ufer, und Tell gelingt mit einem Sprung an Land die Flucht. Die Stelle wird heute Tells-Platte genannt. In der Nähe errichtete man eine Tellskapelle.


3. Problem: Der Schweizer Held kommt aus Dänemark

Tell zeigt geradezu verblüffende Ähnlichkeit mit den Helden nordischer Sagen: In verschiedenen norwegischen, englischen, isländischen und dänischen Erzählungen findet man Apfelschuss-Szenen. Der dänische Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus beispielsweise berichtete im 12. Jahrhundert von einem Helden namens Toko, der auf Befehl König Blauzahns seinem Sohn einen Apfel vom Kopf schiessen musste. Schon Toko nahm – genau wie später Tell – mehrere Pfeile aus dem Köcher. Nach dem Grund befragt, antwortete er trotzig: Er hätte den König erschossen, wenn das Kind verletzt worden wäre. Zur Strafe musste Toko sein Leben durch einen halsbrecherischen Skisprung über einen Felsen retten. Später verletzte er Blauzahn während einer Schlacht tödlich.

Die Parallelen zur Schweizer Tell-Legende sind beachtlich: der Apfelschuss, die Pfeile, die zweite Mutprobe, der Tod des Tyrannen. Hat sich die Geschichte wiederholt, oder haben die Schweizer von den Dänen abgeschrieben? Die Forscher vermuten, dass die Eidgenossen Teile der alten dänischen Sage übernommen und mit etwas Lokalkolorit ausgeschmückt haben. denn Toko ist älter als Tell. Nur: Warum sollten die Schweizer einen nordischen Mythos importieren?
Sie haben es wahrscheinlich nicht absichtlich getan. Möglicherweise brachten Reisende und Händler, die auf dem Weg zum Gotthard in den Waldstätten Station machten, die Geschichte mit. Oder die eidgenössischen Bauern, die auf den Märkten ihr Vieh verkauften, hörten, wie fahrende Sänger ein Lied über Toko zum Besten gaben. Im Laufe der Generationen könnte aus Toko Tell geworden sein, ein Schweizer Held und tapferer Eidgenosse. Die Veränderungen, die die Legende durchlief, sind heute kaum noch nachvollziehbar, erklärt Bergier: Die Tell-Geschichte ist 2ein Labyrinth, in dem sich die Zeit heillos verirrt hat“. Zum Nationalhelden wurde der Armbrustschütze erst im 16. Jahrhundert. Im „Urner Tellenspiel“ aus dem Jahre 1512 ist Tell nicht nur Meisterschütze und Tyrannenmörder, sondern auch Initiator des Rütli-Schwurs. Ägidius Tschudi schmückte in seinem wenig später erschienenen Werk „Chronicon Helveticum“ die Handlung weiter aus und gab sogar konkrete Zeitangaben, die jedoch der wissenschaftlichen Prüfung späterer Epochen nicht standhielten.


4. Problem: Der Zeitgeist machte Tell zum Helden

Mit dem Ende des Mittelalters und dem Humanismus rückte das Individuum in den Mittelpunkt. Gleichzeitig wurde nach dem Vorbild antiker Autoren dramatisiert und ausgeschmückt. Dem Zeitgeist folgend, machte Tschudi den Vogt Gessler zum tyrannischen Unterdrücker und Wilhelm Tell zum Freiheitskämpfer. Der Apfelschuss – wahr oder erfunden – wurde zur Schlüsselszene. Kein Wunder: Die Episode geht ans Herz und legitimiert gleichzeitig die Tat. Ohne die Tyrannei des Vogts, der ihn zwingt, auf seinen Sohn zu zielen, wäre Tell kein Freiheitskämpfer, sondern ein heimtückischer Meuchelmörder.

Der mutige und patriotische Meisterschütze wurde zum Symbol des noch jungen Schweizer Nationalstolzes: 1315 hatten die Eidgenossen am Morgarten eine Habsburger Invasion zurückgeschlagen – genau genommen war dieser Triumph und nicht der Schuss Tells die Initialzündung zur Unabhängigkeit. Nach Morgarten hatten sich immer mehr Orte dem Bund angeschlossen. 1386 besiegten die Schweizer die Habsburger bei Sempach, 1388 bei Näfels, 1499 löste sich die Schweiz vom Deutschen Reich. Nur wenige Jahrzehnte später schrieb Tschudi das „Chronicon Helveticum“. Seine ausführliche Schilderung der Tell-Geschichte diente allen späteren Autoren – Schiller inbegriffen – als Vorlage.


5. Problem: Who is Who?

Die beiden Gegenspieler Tell und Gessler entwickelten dadurch ein Eigenleben. Die Tell-Geschichte zeigt, dass aus literarischen Figuren echte Persönlichkeiten werden können, über die man alles zu wissen scheint. Als ketzerische Wissenschaftler im letzten Jahrhundert begannen, den Helden in Frage zu stellen, entbrannte darüber ein Forscherstreit, der sich über Jahrzehnte hinzog und bis heute nicht endgültig beigelegt ist. Gab es Tell oder nicht? Vielleicht wird man nie eine endgültige Antwort finden. Der Historiker Bergier: „Wir stehen vor dem Problem der erzählten Geschichte. Sie ist allen möglichen Manipulationen ausgesetzt und sie unterliegt ihnen unweigerlich. Von einem Erzähler zum anderen überkreuzen sich die einzelnen Ereignisse, sie werden chronologisch verwechselt, sie kollidieren miteinander, sie geraten durcheinander. Und stets ist die Versuchung gross, Personen miteinander zu verbinden oder gar zu verschmelzen, die gar nichts miteinander zu tun hatten.“

Man kann also nur spekulieren: Möglicherweise gab es einen tapferen Bergbauern, der den Hut nicht grüsste, und einen Jäger, der auf den Habsburger Vogt schoss. Beide könnten mit dem dänischen Toko zu einer Figur namens Tell verschmolzen sein. Vielleicht war der historische Tell nicht einmal ein Freiheitskämpfer, sondern nur ein trotziger Choleriker, wie ihn Max Frisch in seinem Buch „Wilhelm Tell für die Schule“ beschreibt. Auch die Person des Gessler könnte ein Konglomerat aus mehreren Charakteren sein: Einen Vogt mit dem Namen Gessler hat es in den Waldstätten jedenfalls nie gegeben, sehr wohl aber einen Ritter Tillendorf, der 1291 verschied – also im selben Jahr, in dem die Eidgenossenschaft gegründet wurde. Schoss Tell auf Tillendorf? Oder beschreibt die Legende den Aufstand der Bauern und Leibeigenen gegen den Landadel ein halbes Jahrhundert später? 1358 wurde Johannes Ritter von Attinghausen, der nach dem Abzug der Habsburger das Gebiet beherrschte, von seinen eigenen Landsleuten ermordet.„Ohne Polemik und durchaus im Einklang mit der traditionellen Geschichtswissenschaft lässt sich sagen: Offenbar gab es keinen auswärtigen Tyrannen namens Gessler, dafür aber einen Schweizer Feudalherrn, der im 14. Jahrhundert gewaltsam gestürzt worden ist“, so der Zürcher Historiker Dölf Wild. Vielleicht fasst die Tell-Legende auch beide Ereignisse zusammen: den Aufstand der Waldstätten gegen die Habsburger und die Rebellion der Bauern und Leibeigenen gegen die ortsansässige Adelsschicht.

„Im Grunde ist all das nebensächlich“, resümiert Bergier: „Es schmälert nicht die Glaubwürdigkeit der Erinnerung in ihrem wesentlichen Gehalt: Ein in seinem Stolz und in seinem als gerecht empfundenen Unabhängigkeitsanspruch verletztes Volk begehrt auf; es finden sich in ihm einer oder mehrere Helden, die diesem Aufbegehren öffentlich und konkret Ausdruck verleihen.“
So gesehen ist es egal, ob der Meisterschütze Dichtung oder Wahrheit ist: Wilhelm Tell ist ein Markenzeichen der Schweiz – früher wurden Schweizer Waren mit der stilisierten Armbrust gekennzeichnet. Der Held steht aus Bronze gegossen und in Stein gehauen auf zahllosen Plätzen. Die Geschichte vom Apfelschuss bleibt keinem Schüler erspart. In vielen Schweizer Gemeinden und sogar in New Glarus im US-Bundesstaat Wisconsin werden regelmässig Tellenspiele aufgeführt. Und Schillers Tell ist – wahr oder nicht – eines der bedeutendsten klassischen Bühnenstücke.


Schuss auf den Apfel Ein Schulwandbild aus dem Jahr 1908, das Tells Meisterschuss zeigt.


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